09.09.98
Schultheiß-Blatt hat Blomstedt
nach Leipzig gelockt
Ein Galeriegespräch klärte, was der neue Gewandhauskapellmeister
mit dem bildenden Künstler zu tun hat
Der Nachmittag im Hotel Leipziger Hof ist ungewöhnlich,
die Luft verbraucht, bevor das Galeriegespräch begonnen
hat. Und noch immer drängen Besucher nach. Um die fünf
Herren auf dem Podium wird's eng, es dauert, bis sie aus sich
herausgehen: Arndt Schultheiß, um dessen Radierungen zum
Thema "Gewandhaus" sich das Ganze rankt, der Kunsthistoriker
Rainer Behrends, Hotelchef und Kunstmäzen Klaus Eberhard,
der Musikkritiker (dieser Zeitung) und Moderator Peter Korfmacher-
sowie Herbert Blomstedt. Auf den ersten Blick eine merkwürdige
Mischung aus Alt- und Neuleipzigern, die sich da auf die Verquickungen
zwischen Musik und bildender Kunst berufen. Genau besehen eine
Allianz, deren geistige Synapsen über Ämter und Positionen
hinweg ins Publikum reichen. Schultheiß als der Künstler,
der in seinen Blättern drei Jahrzehnte hiesiger Musikgeschichte
eingefangen hat. Blomstedt, der als neuer Gewandhauskapellmeister
maßgeblich an ihrem Fortgang beteiligt ist. Immerhin war
es ein "Schultheiß", mit dem Leipzigs Kulturbeigeordneter
Giradet Blomstedt zum ersten Sondierungsgespräch überraschte.
Das "Begrüßungsgeschenk" zeigt seinen langjährigen
Lehrer Igor Markevitsch, und Blomstedt verstand sofort: Seinerzeit
hatte ihm das Vorbild geraten, die Chefposition der Dresdner
Staatskapelle zu übernehmen. Nun also eine Einladung nach
Leipzig...Blomstedt lacht, gibt zu, daß ihn die Geste
beeindruckt hat. Passende Gelegenheit für Schultheiß,
ein zweites Geschenk nachzureichen, die Zeichnung von Blomstedts
Zweitlehrer und (dirigentischem Antipoden Markewitschs) Leonard
Bernstein. Wie kam Schultheiß in Leipzig dazu, einer Stadt,
die vor '89 auch künstlerisch hinter dem Eisernen Vorhand
lebte? Antwort darauf gibt das Halbhundert ausgestellter Blätter.
Angefangen bei Vaclav Neumann, hat Schultheiß es immer
wieder und in drei größeren Zyklen geschafft, Gewandhäusler
wie Dirigenten und Solisten von weither in skizzenhaften Porträts
einzufangen. Andor Foldes beispielsweise mimt fast den filigranen
Anschlag eines Klavierkonzertes von Mozart oder Beethoven, Yehudi
Menuhin wird unter den verlängerten Geigenbogen ein körperlich
kleiner wie geistig großer Anbeter der Kunst... Mit den
Reproduktionen ergibt das alles zirka 2500 Blätter, die
meisten im Besitz von Museen und Bibliotheken, unter anderem
in Berlin, Dresden, Halle und Leipzig. Schultheiß` Gewandhauszeichnungen
(Basis der später angefertigten und handcolorierten Radierungen)
wurden bislang in über 30 Ausstellungen weltweit gezeigt.
Quasi ein Blick von Leipzig in die Welt. Blomstedt bringt die
umgekehrte Sicht ein, genau, was Leipzig als Musikstadt braucht:
den Austausch mit dem Andersartigen. Nur so lassen sich tragfähige
Konzepte schmieden ins nächste Jahrtausend - von Bach über
Mendelssohn bis in die Moderne. Schultheiß hat ein Stück
davon aufgezeichnet. Jörg Clemen |